→ DER NACHLASS
Judita Šalgo
(1941 – 1996)
Novi Sad, Serbia
DER NACHLASS
Der Nachlass von Judita Šalgo besteht aus Bild- und Videomaterial und Kunstobjekten. Dieses Material wurde weder systematisiert noch aufgearbeitet. Heute kann der grösste Teil des Nachlasses von der Öffentlichkeit nicht eingesehen werden und bleibt für die Fachwelt und das breitere Publikum weitgehend unbekannt. Ihr Nachlass hat in Serbien keine institutionelle Unterstützung. Die grösste Herausforderung besteht darin, Material und Dokumente für die Rekonstruktion ihrer Auftritte zu sammeln. Dies ist notwendig für künftige Forschungs- und Ausstellungsaktivitäten und die Reaktualisierung von Šalgos Werk im Kontext der jugoslawischen/europäischen Kunstszene der 1960er und 70er Jahre.
Grundlage für die Rekonstruktion ist die Sammlung experimenteller Texte, welche die Autorin in 67 minuta naglas [67 Minutes Out Loud] veröffentlichte. Das Buches enthält auch vier "vorgeführte Texte", denen Šalgo folgende Anmerkung beifügte: "Vorgeführte Texte können von der Poesie abgeleitet sein (sie kommen von ihr, stehen aber ausserhalb von ihr), aber es ist wichtig, dass sie für die Aufführung, die Darstellung geschrieben sind. Wenn es kein Foto gibt, ist der Text selbst ein Fotodokument". Eine notwendige Strategie zur Erschliessung der Rezeption dieser Texte ist die Übersetzung ins Englische.
Das Fotomaterial zu Šalgos Aktivitäten in den 1960er und 70er Jahren befindet sich im Besitz ihrer Familie. Die Fotos zeigen ihre Performances, öffentliche Veranstaltungen in der Redaktion des Jugendtribun in Novi Sad und freundschaftliche Begegnungen. Das Material umfasst auch ein kurzes Video einer ihrer Performances. Wir werden das Bildmaterial mit Texten verbinden.
Zwei Kunstobjekte, die in den Performances verwendet wurden, sind Eigentum des Sammlers Vladimir Macura. Eines der Objekte ist nicht Teil einer Dauerausstellung, sondern befindet sich in den Privaträumen des Sammlers. Macuras Sammlung im Macura-Museum in der Nähe von Belgrad umfasst zwei von Šalgos visuellen Arbeiten.
Das Videomaterial von Šalgo befindet sich im Archiv des Fernsehsenders Vojvodina. Es beinhaltet eine ihrer Performances und ein kollaboratives Videokunstwerk.
Der Nachlass von Judita Šalgo in den Bereichen Performance und Kunstpraxis bedarf einer systematischen Dokumentation, genauen Beschreibung und Kontextualisierung. Darüber hinaus sind umfangreiche Recherchen in privaten Archiven erforderlich, um den Inhalt des Nachlasses der Künstlerin genauer zu erfassen.
Judita Šalgo (1941, Novi Sad, Jugoslawien - 1996, Novi Sad) wurde als Judita Mannheim, Tochter einer jüdischen Familie geboren. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde ihr Vater in ein Lager in Ungarn verschleppt (1942 ermordet), und ihre Mutter 1944 in einem Lager in Deutschland inhaftiert. Um ihre Tochter zu schützen, versteckte ihre Mutter sie in Mali Iđoš (einem Dorf in der Nähe von Subotica) bei "Tante Anuschka", einer Ungarin, die sich bis zur Rückkehr der Mutter um sie kümmerte. Nach dem Krieg und der Rückkehr nach Novi Sad heiratete ihre Mutter erneut, und Judita erhielt den Nachnamen Šalgo. Da ihre Muttersprache Ungarisch war, lernte sie zu Beginn ihrer Schulzeit Serbisch. Sie erwarb 1966 in Belgrad einen Abschluss in Weltliteratur und kehrte nach Novi Sad zurück. Sie arbeitete im Verlag Forum, als Redakteurin bei der Zeitschrift Jugendtribun des Kulturzentrums von Novi Sad, beim Fernsehen Novi Sad, in der Buchhandlung Nolit, beim Schriftstellerverband der Vojvodina und bei der Matica Srpska. Ihre häufigen Stellenwechsel waren durch ihre mangelnde Bereitschaft zu politischen und kreativen Zugeständnissen und Kompromissen bedingt. Konsequente Zivilcourage und Ungehorsam kennzeichneten ihre gesamte Tätigkeit im öffentlichen Raum.
Šalgo tauchte in der Kunstszene von Novi Sad in den 1960er Jahren auf. Die von Šalgo miteditierte ZeitschriftJugendtribun wurde zum Zentrum der Neuen Kunst, des politischen Engagements und der Provokation in Novi Sad. Nach einigen Jahren führten eine Reihe von Verboten, Ausweisungen und sogar Gefängnisstrafen zum Niedergang der kritischen künstlerischen Praxis, und Šalgo wurde entlassen. Ihre experimentellen Texte, die sie in den späten 1960er und frühen 70er Jahren veröffentlichte und aufführte, veröffentlichte sie in der Sammlung 67 minuta naglas [67 Minuten laut] (1980). Die Texte in dieser und der folgenden Sammlung, Život na stolu [Leben auf dem Tisch] (1986), sind durch eine spezifische Genre-Hybridität, Interdiskursivität, Selbstreferenzialität und Performativität gekennzeichnet. Von Beginn ihrer Arbeit an untersuchte Šalgo den Status der weiblichen Autorschaft im Kontext der hegemonialen jugoslawischen bzw. balkanischen Patriarchatsmuster. Indem sie die Institution der Kunst und komplexe Identitätsfragen kritisch untersuchte, verwirklichte Šalgo eine der radikalsten künstlerischen Praktiken der jugoslawischen experimentellen Kunst jener Zeit. In den 1980er Jahren wandte sich Šalgo zunehmend Prosaformen zu und kreuzte ihre neoavantgardistische Poetik mit postmodernistischen Diskursen. In ihrer Prosa erforscht Šalgo weiterhin die Sprache und experimentiert mit literarischen Formen, wendet sich aber beispielsweise der Parodie paradigmatischer künstlerischer und sozialer Konstrukte zu. Ihrem Prosawerk liegt ein komplexes Netz von Identitätserzählungen (vor allem nationaler und geschlechtsspezifischer Art) in einem epochalen Konfliktumfeld zugrunde. Wie sie erklärt: "Kunst ist ein Spiel, bei dem der Einsatz nicht so hoch ist wie beim russischen Roulette, aber er ist bedeutend. Dein Leben steht vielleicht nicht auf dem Spiel, aber deine Identität schon. Die Künstlerin testet, bestätigt und verleugnet ständig ihre Identität" (Šalgo, Chronik 2007, 137). Šalgo war in den späten 1980er und frühen 90er Jahren eine der prominentesten Antikriegsautorinnen. In ihren Essays, die sich auf feministische, postkoloniale, neomarxistische und postmoderne Diskurse stützen, deckte sie politische und soziale Pathologien vor und während der Auflösung Jugoslawiens auf.